mmm: 08 – Blog Martina Mächler - 1

Literatur

mmm: 08 – Blog Martina Mächler

Unseren Füssen geben wir Zeit, um kleine Wurzeln mit Saugnapf-Enden wachsen zu lassen. So kann der Baum vor uns schwanken, wie er will, sich von weiteren Objekten angezogen fühlen und zu einem Tanz um uns herum aufrufen, ohne dass wir unseren eigenen Bewegungen zu sehr misstrauen müssten.

Wir laufen aufwärts und setzen einen sorgfältigen Schritt nach dem anderen auf die vielen verschiedenhohen Treppenstufen aus Holz und Stein. Jene aus Holz formen die Erde, die darüber liegt und stellenweise moosig ist. Jene aus Stein sind teilweise rutschig, da es tagelang regnete. Zeitweise war ich fester Überzeugung, dass der Himmel trauert. Nach Gründen dafür musste ich nicht lange suchen. Schon als kleines Kind trug ich die Vorstellung mit mir, dass das mondförmige Geburtsmal an meinem rechten Arm nicht einzigartig ist. Es wurde zum Sinnbild möglicher Zugehörigkeit, die ich bei jedem Hangelenk suchte, das nicht von über-langärmligen Pullovern, selbstgeknüpften Freundschaftsarmbändern oder übergrossen digitalen Plastikuhren verdeckt wurde. Meine Fühler waren optimistisch ausgestreckt, als ich in neue Klassen kam, in Vereine geschickt wurde, Konzerte und Parties besuchte und mich an selbstgewählten Schulen anmeldete und schliesslich einschrieb.

«Häsch s’ Zitter-Grüsch vo de Blätter verwütscht?» Ich nicke und wir gehen mit dem Wind weiter. 


Heute regnet es nicht, die Luft ist aber so feucht, dass wir trotzdem klatschnass werden. Tritt für Tritt bewegen wir uns vorsichtig nach oben. Dabei tut sich zu unserer Rechten schon bald ein tiefer Abgrund auf, den wir auf der anderen Seite des Tales gespiegelt sehen. Hohe beige-gelbe Gesteinsschichten, ineinander verschlungen. Sie tragen ganze Zeitabschnitte in sich oder stehen für sie und sind mit einer Decke aus diversen Grüntönen bedeckt, die aus der Ferne als nur ein saftiger Farbton wahrgenommen wird. Mit dem Blick geradeaus, auf das gegenüberliegende Grün gerichtet, stehen wir einen Moment still, um uns an die widersprüchlichen Informationen, die in unserem Hirn ankommen, zu gewöhnen. 


Unseren Füssen geben wir Zeit, um kleine Wurzeln mit Saugnapf-Enden wachsen zu lassen. So kann der Baum vor uns schwanken, wie er will, sich von weiteren Objekten angezogen fühlen und zu einem Tanz um uns herum aufrufen, ohne dass wir unseren eigenen Bewegungen zu sehr misstrauen müssten. 


Auf meinem linken Handgelenk habe ich mir vor einigen Jahren ein Zeichen einschreiben lassen. Ein Werkzeug – in Anlehnung an die Armgelenke, die ich in Portland des Öfteren sah und welche Tätigkeiten oder Begeisterungen sichtbar machten. Ich erinnere mich an einen Farbroller für Stein-Lithografie oder einen Schlosserhammer, die ich als Symbole für handwerkliche Begabung las. Da ich zu dieser Zeit hauptsächlich mit digitalen Bildern arbeitete, entschied ich mich für das Zauberstab-Werkzeug von Photoshop, mit welchem Farbflächen angewählt werden können. Toleranzen können definiert werden, um ein Bild vereinfacht ausschneiden zu können und dieses vom Hintergrund und dessen Nuancen zu lösen und an anderer Stelle wieder einzufügen. Zwischentöne werden je nach dem der Auswahl zugeordnet oder davon ausgeschlossen. 


Ich hatte den Tätowierer an einem schwierigen Tag erwischt, denke ich. Er schien die richtige Schicht nicht zu treffen oder hatte einfach zu viel Druck auf meine Haut ausgeübt, so dass das klare Zeichen, das nun über die Jahre sowieso diverse Umgestaltungen durchmachte, sich verteilte. Aus dem Werkzeug wurde wahlweise eine Palme oder eine Pusteblume vor Wunschäusserung oder ein gewöhnlicher Zauberstab, je nachdem welche Augen darauf blickten. 


Der Weg, der sich wieder weitet und uns über viele nasse Kurven ins benachbarte Dorf führt, bringt uns an Vogelgesang und einer Reihe von Bäumen mit unreifen Früchten vorbei, welche grösstenteils am Boden liegen und von einigen Kühen in Ruhe zerkaut werden. Beim letzten Sturm brachen Wurzeln, die tief in der Erde verankert sind, direkt unter der Erdoberfläche, so dass die Bäume alle umkippten nun abwärts-gerichtet liegen. Die splitterigen Bruchstellen können mit meinen beiden Händen nicht umfasst werden. 

Autor

SchwyzKulturPlus

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  • Literatur

Publiziert am

23.08.2021

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